Freitag, 2. April 2021

Der Idiot

Nun, es wäre zu besprechen „Der Idiot“ von Fjodor Dostojewski aus dem ANACONDA- Verlag, der Weltklassiker im Hardcover mit satten 944 Seiten, wovon die letzten sieben Namenserklärungen und Namenszuordnungen sind, DENN: die Warwara Ardalionowna Iwolgina kann durchaus auch als Warja um die Ecke kommen und ihrem Bruder Nikolai Ardalionowitsch Iwolgin alias Kolja begegnen, selbiges gilt für Gawrila Ardalionowitsch Iwolgin, der sich hin und wieder als Ganja in schwerwiegenden Konflikten verzettelt.
Insofern sind diese sieben Seiten hilfreich und ich musste mir keine zehn Zettel Zusatznotizen anlegen, um den Durchblick nicht zu verlieren.
Für Sonstnichtleser, die sich hierher verirrt haben: Das ist wie bei Facebook, wo man vor lauter Ja Nas, Na Dines, Ant Jes nicht mehr durchblickt, wo sich Ed Dys und En Nos um Sin Dys und Do Reens streiten, wo Zweit- und Drittprofile mit Zweit- und Drittnamen angelegt werden, um Sperrungen über Wochen vorzugreifen, die infolge unflätig getätigter Worte der Plattformbetreiber verhängt.
Angelegt, um weiter aktiv Unwesen treiben zu können, zu streiten, zu pöbeln, zu hetzen, sich zum Idioten machen zu können.
Als Idiot in „Der Idiot“ wird der liebenswerte und moralisch korrekte Fürst Myschkin bezeichnet, der, aus der Schweiz (Kur) kommend, in die Mühlen der besseren russischen Gesellschaft gerät, in Konflikte zwischenmenschlicher Art, die mehr und mehr ihn betreffen, da er zwischen zwei Frauen steht und sich immer weniger zurechtfindet, gefangen zwischen Liebe und Mitleid, Sympathie und Zweifel (Reihenfolge wechselnd).
Erklären und spoilern möchte ich das Buch hier nicht (es gibt genug Seiten im Netz, die das ausführlichst tun), nur Dinge kurz anreißen, die augenscheinlich waren und meine Kugelschreibermine spurenhinterlassend in ein Notizheft zwangen.
Bei der Vorstellung der Jepantschinschen Familie, näher der General selbst, werden Furcht und Liebe als gleich starke und einander bedingende Gefühle dargestellt, ein Motiv, was später im Roman mehrfach durchschlägt.
(‚Aber der General murrte in der Folgezeit nie über seine frühe Heirat, betrachtete sie nie als einen unglücklichen Jugendstreich, und seine Gattin schätzte er so hoch und fürchtete sich vor ihr manchmal so sehr, dass er sie sogar liebte.‘/Der Fürst fürchtet sich vor der Schönheit Aglajas, der Nebenbuhler Rogoschin vor dem Schweigen seiner Beinahefrau Nastasja. etc.)
Eine Emotion, die vielleicht jeder irgendwann mal durchgemacht hat, eine Emotion, die damals scheinbar Basis für eine Beziehung war, die heute eher eine Beziehungsanbahnung verhindert. 
(Einschub: Eigene Erfahrung, knappes Jahrzehnt her.)
Einen Standardkonflikt bzw. Konflikt höherer Natur bringt Dostojewski ganz früh unter, als er die Gedanken Myschkins in einer wörtlichen Rede darlegt, der angesichts Todestrafevollzugserlebnis darüber sinniert, ob die Folter physischer Natur nicht etwa nicht so schlimm sei, wie der Vollzug der Todesstrafe nach Urteilsverkündung oder ein Mord- oder Raubtod, weil in allen Fällen für den Sterbenden/Getöteten noch Aussicht und Hoffnung auf Überleben besteht/bestand, während der Vollzug der Todesstrafe den Delinquenten im Vorfeld psychisch zusätzlich martert.
Das Hauptstück allerdings ist die Dreiecksbeziehung Myschkin- Nastasja- und Rogoschin, wobei ich selbst Aglaja dort noch mit einbeziehen würde.
Man (ich) könnte den Fürsten schütteln vor Wut, denn mit Kopfschütteln allein über seine Entscheidungen und Wirrungen ist es nicht getan, ahnt der Leser doch im letzten Buchviertel, dass es ein schlechtes Ende nehmen wird, wenn er sich NICHT für Aglaja entscheidet.
Dabei hatte sie Zeichen über Zeichen gesendet, zum Beispiel dieses Billett dem Fürsten übergeben lassen: ‚Fürst Lew Nikolajewitsch! Wenn Sie nach allem, was vorgefallen ist, beabsichtigen sollten, mich durch einen Besuch in unserem Landhaus in Erstaunen zu versetzen, so mögen Sie wissen, dass ich nicht zu denjenigen gehören werde, die sich darüber freuen. Aglaja Jepantschina.‘
Nun wird sich der Sonstnichtleser fragen, was er von so einer Zicke, von so einer Alten, wollte, wo sie ihn doch bekoffert und geradewegs wegstößt…?!
Leicht zu beantworten: Was sie hier schrieb, wie sie ihn sonst verlachte, beschimpfte- in aller Öffentlichkeit und schlimmstenfalls vor ihrer Familie, ist und war der größte Liebesbeweis und so geriet ihre Mutter angesichts dieses Billetts außer Rand und Band, da es belegte, dass ihre Tochter etwas für den Fürsten empfand.
Scheinbar war in dieser Zeit in Russland öfters das Gegenteil von dem, was man mit Inbrunst und Überzeugung äußerte, das, was man wirklich dachte, fühlte, sagen wollte.
Ist es aber die Furcht, die verbietet Klartext zu reden, die Furcht, auch sich etwas zu vergeben, weil „es sich nicht schickt“? Oder ist es Aglajas überschäumendes Temperament, Romantik und Drama mit dem Füllhorn ausgeschüttet?
(Einschub: Etwa vor einem Jahrzehnt, abgewiesen am Tor zur Altersweisheit, war ich auch mal eine Aglaja.)
Weg von ihr, hin zum Fürsten, dem Idioten, der in einer bemerkenswerten Rede, berauscht vom (allerdings unrealistischen) Gefühl seiner Akzeptanz in gehobenen Kreisen sein Hin und Her verkündet: ‚…Ich habe jetzt keine Furcht für Sie; Sie sind ja doch nicht böse darüber, dass ein solch junger Mann solche Worte zu Ihnen spricht? Gewiss nicht! Oh, Sie verstehen es, zu vergessen und denen zu verzeihen, von denen Sie beleidigt sind, und denen, die Ihnen keine Beleidigung zugefügt haben; denn am allerschwersten ist es ja, denen zu verzeihen, die uns mit nichts beleidigt haben, und zwar eben deswegen, weil sie uns nicht beleidigt haben und folglich unsere Beschwerde über sie unbegründet ist: das ist es, was ich von den höchstgestellten Leuten erwartet hatte: das ist’s, was ich denselben, als ich hierher kam, so schnell wie möglich sagen wollte, obgleich ich nicht wusste, wie ich es sagen sollte…‘
Abseits der gehobenen Kreise und im Überlebenskampf der Müßiggänger parkt (bevor die Antisemitismusfrage auftaucht, die Dostojewski konstant umwabert) der Autor seinen Judenvergleich:
‚…Er (Ptyzin) wies ihn (Ganja) darauf hin, dass er nichts Unehrliches tue und dass Ganja ihn ohne Berechtigung einen Juden nenne; er könnte nichts dafür, dass es so schwer sei, zu Geld zu kommen; er handle rechtlich und ehrenhaft und sei eigentlich bei „diesen Geschäften“ nur Agent; aber infolge seiner geschäftlichen Zuverlässigkeit sei er schon hervorragenden Persönlichkeiten vorteilhaft bekannt geworden, und seine Geschäfte gewönnen immer mehr an Ausdehnung. „Ein Rothschild werde ich nicht werden, und das ist auch nicht nötig“, fügte er lachend hinzu; „aber zu einem Haus in der Litejnaja- Straße werde ich es wohl bringen, vielleicht auch zu zweien, und damit werde ich abschließen.“ Im Stillen aber dachte er: „Wer weiß, vielleicht auch zu dreien!“, sprach das aber nie laut aus, sondern verbarg diese Zukunftsphantasie…‘
Da aber jeder das Gegenteil von dem ist, was er ist und denkt was er denkt und weil die leichteste Flucht über die Hintertür mit der Aufschrift ZEITGEIST gelingt…Moment mal: wenn in 100 Jahren die Urenkel der heutigen Sin Dys und En Nos auf Screenshots lesen, welche Coronaholocaustlieder und Apokalypselyriken ihre Vorvorgänger von sich gegeben haben…na da bin ich aber auch nicht für mildernde Umstände!
(Nachschub: Aufgrund der Vielzahl an vielschichtigen Figuren, findet sich jeder Leser in irgendeiner Person wieder oder entdeckt parallele Verhaltensweisen in seinem Umfeld.)

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