Der Idiot
Nun,
es wäre zu besprechen „Der Idiot“ von Fjodor Dostojewski aus dem ANACONDA-
Verlag, der Weltklassiker im Hardcover mit satten 944 Seiten, wovon die letzten
sieben Namenserklärungen und Namenszuordnungen sind, DENN: die Warwara Ardalionowna Iwolgina
kann durchaus auch als Warja um die Ecke kommen und ihrem Bruder Nikolai Ardalionowitsch
Iwolgin alias Kolja begegnen, selbiges gilt für Gawrila Ardalionowitsch
Iwolgin, der sich hin und wieder als Ganja in schwerwiegenden Konflikten
verzettelt.
Insofern
sind diese sieben Seiten hilfreich und ich musste mir keine zehn Zettel Zusatznotizen anlegen, um den Durchblick nicht zu verlieren.
Für Sonstnichtleser,
die sich hierher verirrt haben: Das ist wie bei Facebook, wo man vor lauter Ja
Nas, Na Dines, Ant Jes nicht mehr durchblickt, wo sich Ed Dys und En Nos um Sin
Dys und Do Reens streiten, wo Zweit- und Drittprofile mit Zweit- und Drittnamen
angelegt werden, um Sperrungen über Wochen vorzugreifen, die infolge unflätig
getätigter Worte der Plattformbetreiber verhängt.
Angelegt,
um weiter aktiv Unwesen treiben zu können, zu streiten, zu pöbeln, zu hetzen,
sich zum Idioten machen zu können. Als
Idiot in „Der Idiot“ wird der liebenswerte und moralisch korrekte Fürst
Myschkin bezeichnet, der, aus der Schweiz (Kur) kommend, in die Mühlen der
besseren russischen Gesellschaft gerät, in Konflikte zwischenmenschlicher Art,
die mehr und mehr ihn betreffen, da er zwischen zwei Frauen steht und sich
immer weniger zurechtfindet, gefangen zwischen Liebe und Mitleid, Sympathie und
Zweifel (Reihenfolge wechselnd).
Erklären
und spoilern möchte ich das Buch hier nicht (es gibt genug Seiten im Netz, die
das ausführlichst tun), nur Dinge kurz anreißen, die augenscheinlich waren und
meine Kugelschreibermine spurenhinterlassend in ein Notizheft zwangen.
Bei
der Vorstellung der Jepantschinschen Familie, näher der General selbst, werden Furcht und Liebe als gleich starke und einander bedingende Gefühle dargestellt,
ein Motiv, was später im Roman mehrfach durchschlägt.
(‚Aber
der General murrte in der Folgezeit nie über seine frühe Heirat, betrachtete
sie nie als einen unglücklichen Jugendstreich, und seine Gattin schätzte er so
hoch und fürchtete sich vor ihr manchmal so sehr, dass er sie sogar liebte.‘/Der
Fürst fürchtet sich vor der Schönheit Aglajas, der Nebenbuhler Rogoschin vor
dem Schweigen seiner Beinahefrau Nastasja. etc.)
Eine
Emotion, die vielleicht jeder irgendwann mal durchgemacht hat, eine Emotion,
die damals scheinbar Basis für eine Beziehung war, die heute eher eine Beziehungsanbahnung
verhindert.
(Einschub: Eigene Erfahrung, knappes Jahrzehnt her.)
Einen
Standardkonflikt bzw. Konflikt höherer Natur bringt Dostojewski ganz früh
unter, als er die Gedanken Myschkins in einer wörtlichen Rede darlegt, der
angesichts Todestrafevollzugserlebnis darüber sinniert, ob die Folter
physischer Natur nicht etwa nicht so schlimm sei, wie der Vollzug der
Todesstrafe nach Urteilsverkündung oder ein Mord- oder Raubtod, weil in allen
Fällen für den Sterbenden/Getöteten noch Aussicht und Hoffnung auf Überleben
besteht/bestand, während der Vollzug der Todesstrafe den Delinquenten im
Vorfeld psychisch zusätzlich martert.
Das
Hauptstück allerdings ist die Dreiecksbeziehung Myschkin- Nastasja- und
Rogoschin, wobei ich selbst Aglaja dort noch mit einbeziehen würde.
Man
(ich) könnte den Fürsten schütteln vor Wut, denn mit Kopfschütteln allein über
seine Entscheidungen und Wirrungen ist es nicht getan, ahnt der Leser doch im
letzten Buchviertel, dass es ein schlechtes Ende nehmen wird, wenn er sich
NICHT für Aglaja entscheidet.
Dabei
hatte sie Zeichen über Zeichen gesendet, zum Beispiel dieses Billett dem
Fürsten übergeben lassen: ‚Fürst Lew Nikolajewitsch! Wenn Sie nach allem, was
vorgefallen ist, beabsichtigen sollten, mich durch einen Besuch in unserem
Landhaus in Erstaunen zu versetzen, so mögen Sie wissen, dass ich nicht zu
denjenigen gehören werde, die sich darüber freuen. Aglaja Jepantschina.‘
Nun
wird sich der Sonstnichtleser fragen, was er von so einer Zicke, von so einer
Alten, wollte, wo sie ihn doch bekoffert und geradewegs wegstößt…?!
Leicht
zu beantworten: Was sie hier schrieb, wie sie ihn sonst verlachte, beschimpfte-
in aller Öffentlichkeit und schlimmstenfalls vor ihrer Familie, ist und war der
größte Liebesbeweis und so geriet ihre Mutter angesichts dieses Billetts außer
Rand und Band, da es belegte, dass ihre Tochter etwas für den Fürsten
empfand.
Scheinbar
war in dieser Zeit in Russland öfters das Gegenteil von dem, was man mit
Inbrunst und Überzeugung äußerte, das, was man wirklich dachte, fühlte, sagen
wollte.
Ist
es aber die Furcht, die verbietet Klartext zu reden, die Furcht, auch sich
etwas zu vergeben, weil „es sich nicht schickt“? Oder ist es Aglajas
überschäumendes Temperament, Romantik und Drama mit dem Füllhorn ausgeschüttet?
(Einschub:
Etwa vor einem Jahrzehnt, abgewiesen am Tor zur Altersweisheit, war ich auch
mal eine Aglaja.)
Weg
von ihr, hin zum Fürsten, dem Idioten, der in einer bemerkenswerten Rede,
berauscht vom (allerdings unrealistischen) Gefühl seiner Akzeptanz in gehobenen
Kreisen sein Hin und Her verkündet: ‚…Ich habe jetzt keine Furcht für Sie; Sie
sind ja doch nicht böse darüber, dass ein solch junger Mann solche Worte zu
Ihnen spricht? Gewiss nicht! Oh, Sie verstehen es, zu vergessen und denen zu
verzeihen, von denen Sie beleidigt sind, und denen, die Ihnen keine Beleidigung
zugefügt haben; denn am allerschwersten ist es ja, denen zu verzeihen, die uns
mit nichts beleidigt haben, und zwar eben deswegen, weil sie uns nicht beleidigt
haben und folglich unsere Beschwerde über sie unbegründet ist: das ist es, was
ich von den höchstgestellten Leuten erwartet hatte: das ist’s, was ich
denselben, als ich hierher kam, so schnell wie möglich sagen wollte, obgleich
ich nicht wusste, wie ich es sagen sollte…‘
Abseits
der gehobenen Kreise und im Überlebenskampf der Müßiggänger parkt (bevor die
Antisemitismusfrage auftaucht, die Dostojewski konstant umwabert) der Autor
seinen Judenvergleich:
‚…Er
(Ptyzin) wies ihn (Ganja) darauf hin, dass er nichts Unehrliches tue und dass
Ganja ihn ohne Berechtigung einen Juden nenne; er könnte nichts dafür, dass es
so schwer sei, zu Geld zu kommen; er handle rechtlich und ehrenhaft und sei
eigentlich bei „diesen Geschäften“ nur Agent; aber infolge seiner
geschäftlichen Zuverlässigkeit sei er schon hervorragenden Persönlichkeiten
vorteilhaft bekannt geworden, und seine Geschäfte gewönnen immer mehr an
Ausdehnung. „Ein Rothschild werde ich nicht werden, und das ist auch nicht
nötig“, fügte er lachend hinzu; „aber zu einem Haus in der Litejnaja- Straße
werde ich es wohl bringen, vielleicht auch zu zweien, und damit werde ich
abschließen.“ Im Stillen aber dachte er: „Wer weiß, vielleicht auch zu
dreien!“, sprach das aber nie laut aus, sondern verbarg diese
Zukunftsphantasie…‘
Da
aber jeder das Gegenteil von dem ist, was er ist und denkt was er denkt und
weil die leichteste Flucht über die Hintertür mit der Aufschrift ZEITGEIST
gelingt…Moment mal: wenn in 100 Jahren die Urenkel der heutigen Sin Dys und En
Nos auf Screenshots lesen, welche Coronaholocaustlieder und Apokalypselyriken
ihre Vorvorgänger von sich gegeben haben…na da bin ich aber auch nicht für
mildernde Umstände!
(Nachschub:
Aufgrund der Vielzahl an vielschichtigen Figuren, findet sich jeder Leser in
irgendeiner Person wieder oder entdeckt parallele Verhaltensweisen in seinem
Umfeld.)
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